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Die Scham

„Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Annie Ernaux seziert es an sich selbst, indem sie zurückblickt, auf eine eigentlich unfassbare Episode ihrer Kindheit und in eine Vergangenheit, die nicht vergehen will.

 

Annie Ernaux, geboren 1940, ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit (aus dem Klapptext)

Hier einige Auszüge aus ihrem 2020 erschienenen autobiographischen Text „Die Scham“ erschienen in der Bibliothek Suhrkamp.

 

Das Leben ist in feste Abschnitte unterteilt, die Kommunion und die erste Armbanduhr, die erste Dauerwelle für die Mädchen, der erste Anzug für die Jungen. Zum ersten Mal seine Tage bekommen, Nylonstrümpfe tragen zu dürfen alt genug sein, um bei Familienessen Wein zu trinken, eine Zigarette zu rauchen und am Tisch sitzen zu bleiben, wenn anzügliche Geschichten erzählt werden…

 

Mit zwölf Jahren lebte ich in den Konventionen und Regeln dieser Welt und konnte mir nichts anderes vorstellen.

Die Kinder zu züchtigen und zu bestrafen, weil man glaubte, sie seien von Natur aus böse, gehörte zu den Pflichten guter Eltern. Von der Ohrfeige bis zur Tracht Prügel war alles erlaubt. Das bedeutete nicht, dass man besonders streng oder brutal war, wenn man sich ansonsten bemühte, sein Kind zu verhätschelt, und wenn man es nicht übertrieb. Der Vater erhob selten die Hand, dass ausschimpfen überließ er der Mutter. »Schmutzfink!« »unverschämtes Gör!«  das Leben wird dich schon zurechtstutzen!«

 

Jeder belauerte jeden. Man musste unbedingt das Leben der Anderen kennen – um davon zu erzählen – und das eigene abschotten – damit die anderen genau das nicht tun konnten. Eine schwierige Strategie, den Leuten die Würmer aus der Nase ziehen, sich aber selbst nichts entlocken lassen, nur sagen was nach außen dringen darf.

 

Der bevorzugte Zeitvertreib war es, Leute zu treffen. Ob beim Schützenfest, bei der Sportveranstaltung, bei der Kommunion oder Prozession – dabei ging es nicht nur darum das Spektakel zu genießen, sondern auch, die anderen Zuschauer in Augenschein zu nehmen, hinterher konnte man nach Hause gehen und erzählen, wer da gewesen war und mit wem. Man beobachtete das Verhalten der anderen, analysierte ihr Benehmen bis ins kleinste, sammelte und interpretiert die Indizien, aus deren Summe sich ihre Geschichte zusammensetzt.  Am Ende stand immer ein Urteil: er ist ein guter Mensch oder sie taugt nichts.

 

In Gesprächen ordnete man die Handlungen und Taten der Menschen und ihr Benehmen in Kategorien ein, gut und böse, erlaubt, und verwerflich.

Uneingeschränkte Missbilligung traf Geschiedene, Kommunisten, unverheiratet Zusammenlebende, minderjährige Mütter, Frauen, die tranken, die abtrieben, die sich nicht um den Haushalt kümmerten etc.

Eine mildere Form traf Frauen, die vor der Hochzeit schwanger wurden, und Männer, die sich in der Kneipe vergnügten (denn sich Vergnügen war Kindern und Jugendlichen vorbehalten), sowie männliches Verhalten im Allgemeinen. Man lobte Tüchtigkeit und Fleiß, Eigenschaften, mit denen man Verfehlungen, wenn schon nicht sühnen so doch zumindest relativieren konnte, er trinkt, aber er ist nicht faul.

 

Gesundheit galt als Charakterstärke, sie ist kränklich war nicht nur Ausdruck von Mitleid, sondern auch ein Vorwurf. Krank zu sein, war auf die diffuse Weise mit einem Makel behaftet, als hätte sich derjenige unachtsam gegenüber dem Schicksal verhalten. Grundsätzlich gestand man anderen nur widerstrebend zu, ernsthaft und berechtigterweise krank zu sein, man verdächtigt sie stets, sich anzustellen.

Wer empfindlich war, zart besaitet, dem begegnete Mann mit Erstaunen und Neugier. Besser sagte man, das hat mir nicht viel ausgemacht.

 

Die Menschen wurden nach dem Grad ihrer Geselligkeit beurteilt. Man musste direkt, ehrlich und höflich sein. Scheele Kinder und griesgrämige Arbeiter verstießen gegen die Regel des korrekten Austauschs von ein paar Worten. Es galt als verwerflich, die Einsamkeit zu suchen, dann war man schnell ein Miesepeter. Wer allein leben – Junggesellen und alte Jungfern verachtet man – und mit niemandem reden wollte, weigerte sich dem allgemeinen Empfinden nach, etwas zu leisten, was mit menschlicher Würde zu tun hatte: die leben wie die Wilden! Dadurch zeigte man nämlich offen, dass man sich nicht für das Allerinteressanteste interessierte, das Leben der anderen. Man also keine Manieren hatte. Wer allerdings zu häufig die Nachbarn oder Freunde besuchte und sich ständig bei dem oder dem herumtrieb, machte sich eben so verdächtig: fehlenden Stolzes.

 

Höflichkeit war der herrschende Wert, das wichtigste Kriterium des gesellschaftlichen Urteilens. Man musste zum Beispiel:

Alles erwidern, Einladungen zum Essen und Geschenke – bei Neujahrsbesuchen die Rangfolge nach Alter einhalten – man durfte die Leute nicht stören, in dem man sie unangekündigt besuchte oder sie direkt etwas fragte, man durfte sie nicht vor den Kopf stoßen, indem man etwas ablehnte, das angebotene Gebäck etc. die Höflichkeit ermöglichte es, mit den anderen zurechtzukommen und keinen Anlass für Gerede zu bieten: wenn man beim Überqueren des Gemeinschaftshofs nicht in fremde Wohnungen blickte, bedeutet das nicht dass man nicht sehen wollte, sondern nur das man nicht beim sehen gesehen werden wollte.

 

Die Höflichkeit war ein Schutzschild und überflüssig zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, hier galt sie sogar als scheinheilig oder gemein. Grobheit, Spott und Geschrei waren normale Formen der familiären Kommunikation.

 

Wie die anderen sein, war das allgemeine Ziel, das zu erreichende Ideal. Originalität galt als exzentrisch, sogar als Zeichen, dass man nicht alle Tassen im Schrank hatte.

 

Keine Gefühle zu zeigen, ob Wut oder Trauer, alles zu verheimlichen, was zu Neid oder Neugier führen und weitererzählt werden könnte.

 

Es gab kaum Wörter für Gefühle. Jetzt steh ich dumm da bei einer Enttäuschung, ich war sauer bei Unzufriedenheit. Wie traurig, sagte man gleichermaßen, wenn man seinen Kuchen nicht schaffte oder der Verlobte einen sitzen ließ. Und ins Unglück stürzen.

 

Es gab für mich noch andere Rangordnungen als die der Schulnoten, solche, die sich im Laufe der Zeit in jeder Gruppe herausbilden und die sich übersetzen lassen mit »die mag ich« und »die mag ich nicht«. Zunächst die Unterteilung in angeberische und nicht angeberische Mädchen, in jene, die sich etwas darauf einbilden, dass sie bei Schulfesten als Tänzerin auftreten und in den Ferien ans Meer fahren – und die anderen. Angeberisch zu sein, ist eine körperliche und soziale Eigenschaft der jüngeren, hübscheren Mädchen, die in der Innenstadt wohnen, mit Eltern, die Handelsvertreter oder Ladeninhaber sind. In die Kategorie der nicht arroganten Mädchen gehören die Bauerntöchter, die mit dem Fahrrad vom Land kommen, ältere, meistens sitzengebliebene Mädchen. Das womit sie angeben können, ihre Felder, Traktoren und Knechte, beeindruckt wie alle Dinge vom Land niemanden. Man verachtet alles Hinterwäldlerische. Beleidigung: »glaubst du, du bist hier auf einem Bauernhof?«

 

Ich wollte älter aussehen. Ohne das Verbot meiner Mutter und die Ächtung durch die katholische Kirche hätte ich mit elfeinhalb Jahren für den Besuch der Messe Nylonstrümpfe, hohe Schuhe und Lippenstift getragen. Nur eine Dauerwelle durfte ich mir machen lassen, um erwachsener zu wirken. Meine Mutter verbot mir den breiten schwarzen Gürtel aus elastischem Material, den man mit zwei Metallhäkchen verschloss und der in jenem Sommer die Taille und den Po aller jungen Mädchen und Frauen betonte. Erinnerung einer quälenden Sehnsucht nach diesem Gürtel, er fehlte mir den ganzen Sommer über.

 

Man sagte über mich, die Schule bedeutet ihr alles.

 

 

Meine Mutter ist die Vermittlerin des religiösen Gesetzes und der schulischen Vorschriften. Sie geht zur Messe, zur Vesper im Winter, zum Segen, zur Fastenpredigt, am Karfreitag zum Kreuzweg. Seit ihrer Jugend sind Prozessionen und andere religiöse Feste für sie ehrbare Anlässe, unter Leute zu gehen und sich fein gekleidet in guter Gesellschaft zu zeigen.

1952 ist meine Mutter für mich die Religion. Immer wieder geäußerte Grundsätze: sich ein Beispiel nehmen, aber nicht alles nachmachen. Vor allem: mit gutem Beispiel vorangehen. Und: was sollen die anderen von dir denken?

 

Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, die so empfindet. Im Bewusstsein zu leben »nur wir sind so«.

 

Eines Tages, wir saßen beim Abendessen, beschwerte ich mich ausführlich über die krummen Bügel meiner Brille. Während ich daran herumbog, packte meine Mutter die Brille und warf sie schreiend mit aller Kraft auf den Küchenboden. Die Gräser zersplitterten. Unmöglich, mich an etwas anderes zu erinnern als an dem Tumult, die Vorwürfe meiner Eltern und mein Schluchzen. Außerdem das Gefühl einer Katastrophe, die unweigerlich ihren Lauf nimmt, so etwas wie »jetzt sind tatsächlich alle wahninnig geworden«. Auch das gehört zur Scham: Der Eindruck, dass einem von nun an alles Mögliche passieren kann, dass es nie aufhören wird, dass die Scham zu immer mehr Scham führt.

 

Die Aufzählung fortzusetzen ist überflüssig. Die Scham ist nichts als Wiederholung und Akkumulation.